Pflegenotstand in der Fabrik Krankenhaus

Seitdem Profitorientierung, Wettbewerb und Kostendruck den Krankenhaussektor erfasst haben, haben sich die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten massiv verschlechtert. Der Personalmangel macht eine gute Pflege zunehmend unmöglich. Doch an der Charité haben sich die Kolleginnen und Kollegen aufgemacht diesem System den Kampf anzusagen

Von Jan Latza und Kirsten Schubert

An der Berliner Charité wollen die Beschäftigten mit einer neuartigen Tarifforderung dem Pflegenotstand entgegentreten. Ihre zentrale Forderung ist eine verbindliche Quote von Pflegekraft zu PatientIn: Maximal fünf PatientInnen sollen von einer Pflegekraft auf einer Normalstation versorgt werden und maximal zwei auf der Intensivstation.

Damit ist die Charité ein Präzedenzfall in der Tarifpolitik im Krankenhausbereich: Beschränkten sich zuvor die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen meist auf höhere Löhne, geht es nun um qualitative Forderungen durch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Diese Verbesserung steht in direktem Zusammenhang mit den Bedürfnissen der PatientInnen, weil eine solche Quote unmittelbaren Einfluss auf die Qualität der pflegerischen Versorgung hätte. Das Allgemeininteresse dieser Forderung steckt auch im Motto zur aktuellen Tarifauseinandersetzung: »Mehr von uns ist besser für alle!«

Privatisierungen und Wettbewerb

Der Pflegenotstand in deutschen Krankenhäusern ist Ausdruck der Widersprüche und destruktiven Potenziale des neoliberalen Umbaus im Gesundheitssystem – und wird als solcher auch zunehmend öffentlich wahrgenommen. Privatisierungen und Wettbewerb bestimmen die Krankenhauslandschaft. Fallpauschalen dienen dabei als zentrales Instrument zur Ausweitung der Marktlogik, die enormen Druck auf die Personalkosten erzeugt und die Arbeitsbedingungen massiv verschlechtert.

Die Gesundheit der Beschäftigten wie der PatientInnen wird durch Profitorientierung und Kostendruck systematisch aufs Spiel gesetzt. Dagegen hat die Forderung der Beschäftigten an der Berliner Charité nach einer Mindestpersonalbemessung in der Pflege das Potenzial, die neoliberale Logik der Krankenhausindustrie zu durchbrechen. Durchzusetzen ist sie wahrscheinlich nur durch einen Erzwingungsstreik. Dafür haben sich die Beschäftigten gut vorbereitet und organisiert. Sie können auf erfolgreiche Streikerfahrung zurückgreifen und werden von einem Bündnis aus GewerkschafterInnen, Beschäftigten, Auszubildenden, Medizinstudierenden und linken Organisationen unterstützt.

Inwertsetzung des Krankenhauses

Seit knapp 30 Jahren werden Krankenhäuser zunehmend dem Wettbewerb ausgeliefert. Dieser Prozess ist politisch gewollt und mündete 2004 in die Einführung von Fallpauschalen (auch Diagnostic Related Groups; kurz DRGs) in der Krankenhausfinanzierung. Die strategische Veränderung liegt dabei in der Umkehr der Finanzierungslogik, mit der die Behandlungskosten von den Krankenkassen erstattet werden: Ab 1992 wurde das sogenannte Selbstkostendeckungsprinzip, bei dem die tatsächlichen Behandlungskosten im Nachhinein und in vollem Umfang von den Krankenkassen bezahlt wurden, sukzessive abgeschafft und durch ein pauschalisiertes, gedeckeltes Finanzierungssystem ersetzt.

Die Betriebskosten eines Krankenhauses werden heute durch einen festgesetzten Betrag pro Behandlung finanziert. Diese Fallpauschale ergibt sich aus der Diagnose, den Nebendiagnosen und dem jeweiligen Behandlungsverfahren. Gewinn-, Verlust- und Einsparungsmöglichkeiten können damit sehr viel einfacher berechnet werden. Da die Kosten für technische, standardisierbare Anwendungen leichter betriebswirtschaftlich zu erfassen sind als konservative Behandlungsverfahren oder gar Zuwendung und Pflege, ist der Weg vorgezeichnet.

»Blutige« Entlassungen

Ähnlich einer Fabrik werden PatientInnen zu Fällen, deren »Produktionskosten« kalkulier- und rationalisierbar sind. Auch die »Produktionszeit« wird durch die sogenannte Verweildauer steuerbar: Den Fällen wird ein unterer, mittlerer und oberer Zeitraum zugewiesen, innerhalb dessen die Behandlung abgeschlossen sein muss, um profitabel oder zumindest kostendeckend zu sein.

Zu den vorhersehbaren Nebenwirkungen gehören: Zu frühe, sogenannte blutige Entlassungen, die Angehörige, PatientInnen und Beschäftigte überfordern und nicht selten wenige Tage später zur erneuten Aufnahme führen, sowie zunehmend »unnötige« Operationen, da bestimmte Eingriffe besonders erlösträchtig abgerechnet werden können.

Renditen zwischen 10 und 15 Prozent

Für AnlegerInnen und Krankenhauskonzerne wurden jedoch attraktive Marktbedingungen geschaffen. Durch sie wurde eine zunehmend mächtige Krankenhausindustrie befördert, die nach den Imperativen kapitalistischer Verwertung produziert. Diese Entwicklung wird deutlich am Zuwachs privater Krankenhäuser: In Deutschland wird mittlerweile ein Drittel aller Kliniken privatwirtschaftlich betrieben – mehr als in den USA.

Die Privatisierungswelle in Krankenhäusern hat dazu geführt, dass sich die Zahl der Betten in privaten Kliniken zwischen 2002 und 2011 beinahe verdoppelt hat (von 48.615 auf 87.000), während im gleichen Zeitraum die Bettenzahl in öffentlichen Einrichtungen um 55.000 zurückging. Private Krankenhauskonzerne kalkulieren mit Renditen zwischen 10 und 15 Prozent; die vier größten verbuchten 2011 Gewinne von 711 Millionen Euro, die Tendenz geht steil nach oben. Diese Entwicklung wäre ohne den Wechsel des Finanzierungssystems auf Fallpauschalen nicht möglich gewesen.

Mehr PatientInnen – weniger Personal

Privatisierungen bedeuten für die Beschäftigten Lohnverluste und schlechtere Arbeitsbedingungen. Da öffentliche und freigemeinnützige Kliniken aber ebenso im Wettbewerb stehen wie private, verschlechtern sich die Bedingungen in relativ ähnlicher Weise. Für die Beschäftigten und die PatientInnen sind die Auswirkungen der Finanzierung durch Fallpauschalen gleichermaßen fatal. Der systemimmanente Druck, Kosten zu senken bzw. die Erlöse zu steigern, setzt Anreize, möglichst viele Fälle mit möglichst wenig (pflegerischem) Aufwand zu behandeln.

Während die Fallzahlen seit der Einführung der DRGs von 2004 bis 2011 um 1,5 Millionen auf 18,3 Millionen Fälle jährlich angestiegen sind, waren 2011 genauso viele Vollkräfte in der Pflege beschäftigt wie 2004. Im Alltag heißt das: Mehr PatientInnen werden von weniger Personal versorgt. So fehlen nach einer Erhebung von ver.di bundesweit mittlerweile 70.000 Vollzeitstellen im Pflegebereich.

Pflegenotstand kostet Menschenleben

Die massive Arbeitsverdichtung belastet das – noch immer mehrheitlich weibliche – Personal physisch wie psychisch und hat unmittelbar negative Auswirkungen auf die Versorgung der PatientInnen. Aufgrund unzumutbarer Arbeitsbelastung der Beschäftigten kommt es zu »gefährlicher Pflege«, die von fehlender pflegerischer Zuwendung über das Risiko falscher Medikation sowie erhöhter Infektionsgefahr durch Krankenhauskeime bis hin zu erhöhten Sterberaten reicht.

In mehreren internationalen Studien wurde der Zusammenhang von Personalmangel und einem erhöhten Sterberisiko im Krankenhaus belegt. Anders gesagt: der Pflegenotstand kostet Menschenleben.

Tarifbewegungen für eine Mindestpersonalbemessung

Seit einiger Zeit fordert ver.di eine gesetzliche Personalbemessung in Krankenhäusern. (1) Die Gewerkschaft setzt dabei aber im Rahmen der Kampagne »Der Druck muss raus« wesentlich auf appellative Forderungen an die Bundesregierung, die durch öffentlichkeitswirksame Aktionen und Demonstrationen vorgetragen werden.

Sicherlich wird eine Personalbemessung, die grundlegend die Zustände im Krankenhaus verbessert, letztlich nur gesetzlich geregelt werden können. Auf Dauer würden tarifliche Regelungen Krankenhäuser, in denen keine Personalbemessung festgesetzt ist, im Wettbewerb um die niedrigsten Kosten deutlich belohnen. Es ist aber unwahrscheinlich, dass einer Forderung, die einen harten Kern der neoliberalen Krankenhaus- und Gesundheitspolitik der letzten Jahrzehnte angreift, ausschließlich mit diesen Mitteln zur Durchsetzung verholfen werden kann. Um für unmittelbare Verbesserung zu kämpfen und den politischen Druck zu erhöhen, sind Tarifbewegungen für eine Mindestpersonalbemessung – inklusive der Möglichkeit des Streiks – unerlässlich.

Kommt es erneut zum Streik?

Mit einem Betten- und Stationsschließungsstreik gelang es den Charité-Beschäftigten bereits 2011, höhere Löhne durchzusetzen; nach fünf Tagen Vollstreik wurden ihre Forderungen weitgehend erfüllt. (2) Während des Streiks wurden 40 Stationen mit etwa 50 Prozent der Betten geschlossen. 90 Prozent der Operationen fielen aus; die Charité erlitt Verluste von ca. 5,5 Millionen Euro. Die gewerkschaftliche Organisationsmacht ist durch den Streik gestiegen und wird aktuell wieder mobilisiert.

Hier liegt der zentrale Hebel, um eine Mindestpersonalbemessung durchzusetzen. Die gewerkschaftlichen Betriebsgruppen der Uniklinika in Marburg/Gießen und Freiburg sowie in einigen anderen Städten verfolgen die Auseinandersetzung gespannt und haben mit den Vorbereitungen für eigene Tarifverhandlungen begonnen. Ver.di hat damit die Chance, die Pilotauseinandersetzung an der Charité in eine Welle betrieblicher Tarifbewegungen für eine Mindestpersonalbemessung zu überführen. Dadurch würde auch das politische Druckpotenzial für eine gesetzliche Regelung deutlich zunehmen.

Große Zustimmung in der Bevölkerung

Nach zähem Ringen und der Androhung von Warnstreiks hat sich die Charité im Juli auf Tarifverhandlungen eingelassen. Wann und ob es zu einem Streik kommen wird, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht eindeutig sagen. Zur Unterstützung der Tarifbewegung hat sich im Juni das Bündnis »Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus« gegründet.
Über eine Webseite (www.mehr-krankenhauspersonal.de) und mit Unterschriftensammlungen wird Unterstützung und Solidarität organisiert; die Tarifverhandlungen werden mit Flashmobs und Veranstaltungen begleitet. Dabei stoßen die Aktiven auf große Zustimmung in der Bevölkerung. Die eigentliche Herausforderung – die Unterstützung des Streiks – steht aber noch bevor.

Neue Formen des »Social Movement Unionism«

Jetzt ist die Zeit, Strategien zu entwickeln und Bündnisse zu schmieden, um aktiv zu werden für eine »Care Revolution« (Gabriele Winker), die aus den Fabriken wieder Krankenhäuser in gesellschaftlicher Verantwortung macht. Die bevorstehenden betrieblichen Tarifbewegungen bieten Perspektiven, um neue Formen des »Social Movement Unionism« im Gesundheitssektor zu entwickeln und auszuprobieren. (3)

Es geht darum, Möglichkeiten für Austausch und Kooperation zu schaffen, in denen unterschiedliche Akteure gemeinsame Alternativen für eine solidarische Organisation und Finanzierung des Gesundheitssystems entwickeln und für sie streiten. So könnten auch die Kämpfe gegen Krankenhausprivatisierungen und gegen das Fallpauschalensystem neue Dynamik bekommen.

 

Anmerkungen:
1) Die Linkspartei hat diese Forderung als Antrag in den Bundestag eingebracht, siehe dazu das Flugblatt unter www.linksfraktion.de/personalbemessung.
2) Siehe hierzu Luigi Wolf: Patienten wegstreiken. Arbeitskämpfe an der Charité. In: LuXemburg 1/2013, S. 12-17.
3) Siehe hierzu Frank Deppe: Ein Kompass für die Krise. In: ak 542 vom 18.9.2009.
Jan Latza und Kirsten Schubert sind aktiv im Bündnis »Berlinerinnen und Berliner für mehr Krankenhauspersonal«.

Der Text erschien auch in: analyse & kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 587 / 15.10.2013