Der Berliner Charité steht der wohl größte Warnstreik bevor, den es je in einem deutschen Krankenhaus gegeben hat. Wir fragten die Gesundheits- und Krankenpflegerin Grit Wolf, Mitglied der ver.di-Tarifkommission an der Charité, nach den Hintergründen des Streiks. Ein Gespräch über die Ökonomisierung der Krankenhäuser, den Berufsethos in der Pflege sowie über Streikstrategien und Widerstand
An der Charité wird kommende Woche gestreikt. Für Montag und Dienstag hat die Gewerkschaft ver.di alle Beschäftigten zu einem zweitägigen Warnstreik aufgerufen. Dabei geht es jedoch nicht um höhere Löhne, sondern um mehr Personal. Wofür streikt ihr genau?
Wir führen eine Tarifauseinandersetzung über eine Mindestpersonalbesetzung, gesundheitsfördernde Maßnahmen und eine bessere Ausbildungsqualität. Unsere Kernforderung ist, dass in der Normalpflege eine Pflegekraft maximal fünf Patienten versorgt und in der Intensivpflege maximal zwei. Eine weitere wichtige Forderung ist »Keine Nacht allein« – es sollen immer mindestens zwei Pflegekräfte auf einer Station im Nachtdienst eingesetzt werden.
Wie ist das Verhältnis momentan?
In einem bundesweiten Nachtdienstcheck hat ver.di vor kurzem ermittelt, dass auf 56 Prozent der Stationen in deutschen Krankenhäusern eine pflegerische Fachkraft in der Nachtschicht alleine arbeitet und im Durchschnitt 25 Patienten betreut.
Das sind zu viele?
Auf jeden Fall. Stell dir vor es gibt einen Notfall. Wenn zum Beispiel ein Patient nachts aufsteht und stürzt und du bekommst ihn alleine nicht wieder hoch, was willst du dann machen? Jeder Nachtdienst in Unterbesetzung birgt ein Gesundheitsrisiko für Patienten und Beschäftigte. Für das Personal ist das sehr schwierig, da man stets mit einem mulmigem Gefühl den Dienst antritt, in der Hoffnung, das nichts Unvorhergesehenes passiert. Das treibt die eigene Herzfrequenz jedes Mal in die Höhe. Bei der derzeitigen Überlastung in der Pflege ist eine potentielle Patientengefährdung nicht mehr auszuschließen.
Es geht also vor allem um eine Entlastung der Pflegekräfte?
Uns geht es um eine Entlastung aller Beschäftigten an der Charité. Deshalb fordern wir eine Mindestbesetzung für alle Bereiche, in denen das möglich ist. Für alle anderen Bereiche, in denen kein Personalschlüssel festgelegt werden kann, fordern wir verbindliche Verfahren zur Überprüfung der Belastung der Beschäftigten. Des Weiteren fordern wir ein Konsequenzenmanagement, also Standardprozeduren, die regeln, was passiert, wenn der festgelegte Personalschlüssel nicht eingehalten wird.
Was könnten das für Prozeduren sein?
Zum Beispiel Leistungseinschränkungen in Form von Bettensperrungen, wenn das vorgehaltene Personal nicht der zu erbringenden Leistung entspricht. Oder aber auch Prämien für die Kolleginnen und Kollegen, welche in den unterbesetzten Schichten arbeiten müssen. Deshalb ist uns eine festgeschriebene Mindestbesetzung so wichtig, weil dann für jede einzelne Kollegin und jeden einzelnen Kollegen jederzeit nachprüfbar ist, ob die Schicht oder der jeweilige Bereich ausreichend besetzt ist. Und davon würden vor allem auch unsere Patientinnen und Patienten profitieren. Für eine gute Pflege ist eine intensive Betreuung nötig. Heute haben wir kaum Zeit für Gespräche, Zuwendung und Anleitung der Menschen für die wir verantwortlich sind. Das ist es aber was eine gute Pflege ausmacht. Wir erfahren als Beschäftigte eine immer größer werdende Arbeitsverdichtung. Das bedeutet immer mehr Patienten in kürzerer Zeit.
Wie wirkt sich das auf die Beschäftigten aus?
Das schafft natürlich Unzufriedenheit, da es mit dem eigentlich erlernten fürsorglichen Pfelegberuf nichts mehr zu tun hat. Wir haben kaum mehr Zeit uns auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten zu konzentrieren. Stress und Hektik sind unsere ständiger Begleiter im Arbeitsalltag. Und das macht auf Dauer krank. Die Kolleginnen und Kollegen fliehen in Arbeitsteilzeit, kündigen, weil sie dem Druck nicht standhalten können oder resignieren. In allen Bereichen der Charité gibt es massiv Überstunden. Viele Kolleginnen und Kollegen schreiben aufgrund ihrer prekären Arbeitsbedingungen vermehrt Gefährdungsanzeigen .
Was bedeutet die Überlastung konkret in eurem Arbeitsalltag?
Es ist eine Katastrophe, wenn man sich als Pflegekraft überlegen muss, ob man eine halbe Stunde Zeit hat einem Patienten, der bereits eine Magensonde hat, aufwendig eine Mahlzeit anzureichen – verbunden mit einem Ess- oder Schlucktraining – oder ob man die kürzere Variante wählen muss und ihn über seine Sonde ernährt. Oder auch wenn ich entscheiden muss, ob ich es schaffe jemanden während einer Schicht regelmäßig Getränke anzureichen oder die Kurzvariante wähle und Flüssigkeit per Infusion verabreiche. Wir Pflegekräfte haben auch den Anspruch an uns selbst eine gute Pflege zu leisten. Durch den derzeitigen Personalmangel ist das aber kaum möglich.
Woher kommt der Personalmangel? Warum wird nicht ausreichend Personal eingestellt?
Der Pflegenotstand in deutschen Krankenhäusern ist eine direkte Folge des neoliberalen Umbaus des Gesundheitssystems. Heute bestimmen Privatisierungen und Wettbewerb die Krankenhauslandschaft. Der Kern des neoliberalen Umbaus ist dabei die Umstellung in der Finanzierung des Gesundheitswesens auf Fallpauschalen – den sogenannten DRGs (Diagnosis-Related-Groups). Zuvor bekam ein Krankenhaus pro Patient eine Tagespauschale für jeden Krankenhaustag. Heute wird für jedes Krankheitsbild eine Fallpauschale berechnet. Diese Fallpauschale ergibt sich aus der Diagnose, den Nebendiagnosen und dem jeweiligen Behandlungsverfahren. Patientinnen und Patienten werden zu »Fällen«, deren »Produktionskosten« kalkulier- und rationalisierbar sind – wie in einer Fabrik.
Warum führt das zu Personalabbau?
Die Fallpauschalen sind das zentrale Instrument zur Ausweitung der Marktlogik im Krankenhaussektor. Es dient dazu die Kliniken in Konkurrenz zueinander zu setzen, Behandlungen möglichst kostengünstig anzubieten. Es ist also ein Anreiz möglichst viele »Fälle« mit möglichst geringem Aufwand zu behandeln. Gespart wird vor allem bei der Verweildauer der Patienten und bei den Personalausgaben. Über Stichproben wird die Entwicklung der Kosten ermittelt und die Fallpauschalen für das DRG-System abgeleitet. Das bedeutet, dass Einsparungen von heute die Bemessungsgrundlage für morgen senken. Die Folge ist eine Abwärtsspirale: Senkt eine Klinik die Kosten für eine Behandlung, damit der Profit gesteigert oder in öffentlichen Häusern die »schwarze Null« erreicht wird, senkt das langfristig auch die Fallpauschalen. Dadurch wird der Druck auf die Personalkosten immer weiter gesteigert und infolgedessen die Arbeitsbedingungen immer weiter verschlechtert. Im Alltag heißt das: Mehr Patienten werden von immer weniger Personal versorgt.
Und dem wollt ihr mit der Forderung nach einer Mindestbesetzung entgegenwirken?
Die Gesundheit der Beschäftigten sowie der Patientinnen und Patienten wird durch Profitorientierung und Kostendruck systematisch auf’s Spiel gesetzt. Unsere Forderung nach einer Mindestpersonalbemessung hat das Potenzial, diese neoliberale Logik der Krankenhausindustrie zu durchbrechen. Das macht die gewaltige Sprengkraft unserer Tarifbewegung aus. Es ein wichtiges politisches Signal, weil es der Ökonomisierung der Krankenhäuser einen Riegel vorschiebt.
Aber kann man für mehr Personal streiken?
Unser Arbeitgeber hat zu Beginn noch versucht unsere Forderung zu kriminalisieren: Sie sei ein Eingriff in die »unternehmerische Freiheit«. Das zeugt schon sehr von dem merkwürdigen Verständnis, das unser Vorstand von der Charité als öffentlicher Einrichtung innerhalb des Gesundheitssystems hat. Wir haben aber die Bestätigung der Juristen von ver.di und des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, dass unsere Forderungen tariffähig sind. Zumindest indirekt hat das auch unser Arbeitgeber bereits anerkannt, indem er seit nun bereits zwei Jahren mit uns darüber verhandelt und auch schon diverse Angebote gemacht hat. Die sind zwar alle unzureichend und entsprechen lange nicht dem, was wir fordern aber sie bedeuten gleichzeitig auch eine indirekte Anerkennung dessen, dass es eben möglich ist über mehr Personal per Tarifvertrag mit einer Gewerkschaft zu verhandeln. Damit wird indirekt eben auch die Rechtmäßigkeit unserer Forderungen anerkannt.
Sind die Beschäftigten auch bereit für mehr Personal zu streiken?
Auf jeden Fall. Nach den Tarifverhandlungen 2011 haben wir mit den Beschäftigten gesprochen und es stellte sich heraus, dass der zunehmende Personalmangel ein wichtiges Thema ist – eigentlich das Thema überhaupt. Viele Kolleginnen und Kollegen erfahren eine enorme Überlastung. Mit dem Warnstreik kann die Belegschaft nun endlich mal ihrer Wut Ausdruck verleihen, auch weil die Arbeitgeberseite die Verhandlungen verzögert. Jetzt ist es an der Zeit unsere Forderungen mit dem notwendigen Druck zu unterstreichen. Dafür ist der Warnstreik von großer Bedeutung.
Vor etwa einem Jahr hattet ihr auch schon einmal einen Warnstreik angekündigt, der dann kurzfristig abgesagt werden musste, weil die Charité sich aufgrund der absehbaren massiven Streikbereitschaft in die Schlichtung flüchtete. Kann das wieder passieren?
Nein, dieses Mal ist keine Schlichtung möglich. Der Warnstreik steht fest. Unsere Tarifbewegung für eine Mindestpersonalbemessung läuft nun schon seit fast zwei Jahren und die Arbeitgeberseite hat bisher alle Register gezogen, um einen Streik zu verhindern. Die Flucht in die Schlichtung wenige Tage vor dem Warnstreik war das letzte Mittel uns an den Verhandlungstisch zurück zu zwingen. Doch auch diese Karte ist jetzt gespielt.
Was ist bei der Schlichtung damals herausgekommen?
Das Ergebnis war ein »Minitarifvertrag« mit einer Laufzeit von nur einem halben Jahr. Achtzig neue Stellen sollten geschaffen werden, die von einer paritätisch besetzten Gesundheitskommission nach bestimmten Kriterien verteilt werden sollten. Also keine feste Mindestbesetzung, wie wir sie gefordert haben, sondern ein pauschaler Personalzuwachs. Verlockend war allerdings, dass wir damit erstmals einen Tarifvertrag für mehr Personal erreicht hatten. Durch die Beteiligung in der Gesundheitskommission hatte die Arbeitnehmerseite Mitspracherecht in der Personalpolitik. Außerdem sollten wir ja immerhin achtzig neue Vollkräfte bekommen und die Übernahme aller Pflegeauszubildenden, der operationstechnischen Assistenten und der Hebammen wurde zugesichert.
Und dem hat die Tarifkommission von ver.di dann zugestimmt?
Ja. Ich habe den Schlichterspruch allerdings eher kritisch gesehen, weil er vorsah das Personal nach einem »Gießkannenprinzip« zu verteilen. Außerdem entsprechen achtzig zusätzliche Vollkräfte noch lange nicht dem Bedarf an der Charité. Zudem beinhaltete der Tarifvertrag natürlich die Gefahr der Frustration bei der Belegschaft, wenn es bei ihnen auf der Station keine Verbesserung gibt und die Verhandlungen erneut aufgenommen werden müssen.
Kam es zu spürbaren Entlastungen?
Nein, leider nicht. Die Lage hat sich teilweise sogar noch verschärft. Die Gesundheitskommission hatte eher den Charakter einer Notstandsverwaltung, die viel zu wenig Stellen auf zu viele Brennpunktbereiche verteilen musste. Die Arbeitgeberseite drängte auf eine schnelle Verteilung der zusätzlichen Stellen, um den Wirtschaftsplan für das kommende Jahr festzulegen. Die Stellen wurden aber zum Teil nur auf dem Papier geschaffen und nur teilweise tatsächlich besetzt. Am 31. Dezember 2014 ist der Tarifvertrag nun ausgelaufen. Das Modell wird von ver.di als gescheitert bewertet. Wir sind dann in den Verhandlungen wieder zu unserer ursprünglichen Forderung nach einer festen Mindestbesetzung zurückgekehrt.
Und hat der Arbeitgeber dazu ein Angebot gemacht?
Alles, was der Vorstand bisher angeboten hat, ist bei Weitem nicht genug und dient eher der Verzögerung der Verhandlungen. In der letzten Verhandlungsrunde im März bekamen wir ein Angebot, das zwar eine Mindestbesetzungsregelung beinhaltete, jedoch nur für die Intensivstationen. Dabei handelte es sich zudem weitgehend um eine Festschreibung des Ist-Zustandes und für einige Intensivstationen sogar um eine Verschlechterung bei der Personalausstattung. Auf die Normalstationen wurde überhaupt nicht eingegangen und auch bei der Forderung »Keine Nacht allein« gibt es keine Bewegung von Arbeitgeberseite. Wir fordern eine Entlastung für alle Beschäftigten und lassen uns nicht spalten.
Gibt es Beispiele dafür, dass gewerkschaftliche Kämpfe für mehr Personal erfolgreich sein können?
In Deutschland sind wir an der Charité die Vorreiter. Aber international gibt es sehr erfolgreiche Beispiele. Sowohl in Australien, als auch in Kalifornien ist es den Krankenhausbeschäftigten gelungen eine gesetzliche Quote für das Verhältnis von Pflegekräften zu Patienten zu erkämpfen.
Euch geht es aber doch um einen Tarifvertrag. Bräuchte es nicht eine gesetzliche Regelung?
Ja, letztlich brauchen wir eine gesetzliche Mindestpersonalbesetzung. Nur dadurch kann der Konkurrenz zwischen den Häusern und dem stetig wachsenden Kostendruck auf das Personal ein Riegel vorgeschoben werden. Ver.di fordert eine solche gesetzliche Regelung bereits seit Jahren und hat dazu die Kampagne »Der Druck muss raus« initiiert. Das ist auch gut so. Allerdings wird es nicht ausreichen an die Politik zu appellieren. Auch in Australien oder Kalifornien konnte die gesetzliche Quote nur durch den Druck durch betriebliche Kämpfe der Beschäftigten durchgesetzt werden. Nur wenn wir unsere kollektive Macht als Arbeitnehmer gebrauchen, können wir der Ökonomisierung des Gesundheitswesens und ihren negativen Auswirkungen etwas entgegensetzen.
Dann wäre die Charité aber erst mal das einzige Krankenhaus in dem es eine Mindestbesetzung gäbe. Das wäre ein erheblicher Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen Kliniken. Droht da nicht die Pleite?
Die Charité ist keine kleine Dorfklinik. Ein kleines Krankenhaus könnte pleitegehen, die Charité ist jedoch »too big to fail«, sie ist »systemrelevant«, um in der Sprache der Bankenrettung zu bleiben. Die Leitung der Charité wird sich Gedanken machen müssen, wie sie das zusätzlich benötigte Geld aufbringen kann. Mehr Geld für mehr Personal kann aber natürlich nicht nur bei der Leitung der Charité erstreikt werden. Letztlich ist es eine politische Auseinandersetzung.
Gerade Berlin ist doch aber jetzt schon Pleite. Woher soll das Geld kommen?
Nicht zuletzt der Bau des neuen Flughafens BER hat gezeigt, dass immer wieder riesige Summen aufgebracht werden können, wenn es politisch gewollt ist. Leider geschieht das aber bei unsinnigen Großprojekten, und nicht bei Investitionen in soziale Dienstleistungen. Der Berliner Senat verlangt von der Charité eine »schwarze Null« im Haushalt des Klinikbereichs. Daran versucht sich das Charité-Management zu halten, deswegen »ist kein Geld da«. Für diese Forderung gibt es aber keine rechtliche Grundlage, es ist eine politische Entscheidung. Als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge haben Krankenhäuser einen Versorgungsauftrag zu erfüllen. Wer sagt »es ist kein Geld da«, sagt »es ist kein Geld für gute Pflege da«. Nichts anderes.
Momentan schauen viele Krankenhäuser in der ganzen Bundesrepublik auf uns. Sollten wir Erfolg haben, werden andere Kliniken mit Sicherheit unserem Beispiel folgen und für eine tarifliche Personalbemessung streiten und streiken. Wir wollen mit unserem Kampf den Stein ins Rollen bringen, um letztlich eine gesetzliche Regelung für alle Häuser zu erreichen. Die Charité schreitet voran, andere werden folgen.
Im Jahr 2011 habt ihr an der Charité schon einmal sehr erfolgreich gestreikt. Damals ging es um eine höhere Entlohnung. Woher kommt eure Kampfkraft an der Charité?
Im Jahr 2011 haben wir erstmals eine neue Streikstrategie angewendet. Diese Strategie hat dazu geführt, dass Pflegekräfte das erste Mal massiv am Streikgeschehen beteiligt waren. Früher hat sich die Gewerkschaft bei Streiks in Krankenhäusern eher selbst beschränkt. Es wurden Wochenend- oder Feiertagsbesetzungen garantiert. Unter den einzelnen Kollektiven wurde entscheiden, wer in der Pause oder vor bzw. nach der Schicht am Streikgeschehen »mal kurz« teilnimmt. Diese sogenannten Delegationsstreiks haben bewirkt oder besser verhindert, dass die Pflege aktiv am Streik teilgenommen hat und der Stationsalltag nahm unverändert seinen Lauf. Gestreikt haben hauptsächlich Hausmeister, Küchenpersonal, IT’ler und andere patientenferne Berufsgruppen. Diese Streikform hatte für die Pflege eher einen symbolischen Charakter und es konnte kein ökonomischer Druck aufgebaut werden.
Wie sieht die neue Streikstrategie aus?
Das Problem bei einem Streik im Krankenhaus ist zunächst einmal, dass wir anders als in anderen Branchen nicht einfach unsere Arbeit unterbrechen können. Wir müssen uns um die Patientinnen und Patienten kümmern und solange diese bei uns in Behandlung sind, können wir nicht streiken, ohne das jemand zu Schaden kommt. Daher mussten wir ein Konzept entwickeln, dass auf dieses Problem reagiert. Und das war das Konzept des Betten- und Stationsschließungsstreiks.
Wir haben mit der Charité-Leitung 2011 eine Notdienstvereinbarung getroffen, die regelt, dass das Streikrecht von allen wahrgenommen werden kann und der Arbeitgeber sich verpflichtet Betten und ganze Stationen zu evakuieren. Die niedrigste Schwelle in der Vereinbarung ist die Garantie der Notdienstbesetzung. Das bedeutet, dass alle Bereiche, die keine Bettenschließungen melden eine Nachtdienstbesetzung vorhalten. Ärztliche Tätigkeiten werden dann zur Entlastung des Pflegepersonals zurückdelegiert. Für den Fall, dass die Beschäftigten einer Station beschließen eine gewisse Anzahl an Betten oder ihre ganze Station zu bestreiken, sieht die Notdienstvereinbarung vor, dass ein einzelnes Bett innerhalb von drei Tagen oder eine gesamte Station innerhalb von sieben Tagen von Patienten evakuiert werden muss. Die Streikbereitschaft eines Teams wird also vorab dem Arbeitgeber gemeldet und dieser muss dafür sorgen, dass die Stationen bzw. Betten geräumt werden.
Warum hat sich die Charité auf so eine Notdienstvereinbarung eingelassen?
Letztlich hatte sie keine andere Wahl. Es hatten schon im Voraus einige Stationen ihre Entschlossenheit zum Streik erklärt und so Druck aufgebaut. Ohne eine Notdienstvereinbarung wäre das vollkommene Chaos ausgebrochen. Die Arbeitgeberseite konnte also nicht anders und musste einwilligen. Der ethische Druck das Patientenwohl zu schützen gilt nicht nur für uns, sondern auch für unseren Arbeitgeber. So konnten wir diese Notdienstvereinbarung erwirken . Was bisher eine Hindernis für uns war, wurde also auf den Kopf gestellt und gab uns die Möglichkeit, unseren Berufsethos nicht länger als Beschränkung, sondern als mobilisierende Ressource im Streik zu nutzen. Wo kein Patient ist, kann auch keiner gefährdet werden. Damit wird eine Hemmschwelle gelöst, die in der Identifikation mit dem Pflegeberuf verankert ist. 2011 ist es uns so gelungen in fünf Tagen 1500 Betten zu bestreiken. Neunzig Prozent der geplanten Operationen fanden nicht statt.
Was ist der besondere Berufsethos in der Pflege?
Viele Pflegekräfte haben eine besonders hohe Identifikation mit ihrem Beruf. Das ist auch kein Wunder, immerhin tragen wir die Verantwortung für kranke Menschen, die ohne uns häufig vollkommen hilflos sind. Betrachtet man den Beruf der Pflegenden im historischem Kontext, lässt sich erkennen, das diese Identifikation mit dem Beruf immer ein hemmendes Moment mit sich trug. Lange Zeit galt die Krankenpflege als »Liebesdienst«. Es ging also nicht nur darum die eigene Arbeit gut zu machen, sondern sich selbstlos für die Hilfebedürftigen aufzuopfern. Diesen Berufsethos haben viele Pflegende auch heute noch stark verinnerlicht. Der eigene Anspruch an die Arbeit ist also häufig besonders hoch.
Doch genau das wird von den Arbeitgebern ausgenutzt. Uns wird eine Fülle an Arbeit und Verantwortung in die Teams gegeben, ohne dabei die Rahmenbedingungen zu verändern. Das führt dazu, dass Kolleginnen und Kollegen auf ihre Pausen verzichten und länger bleiben, um den zunehmenden Arbeitsaufwand bewältigen zu können. Wir schieben fast alle einen großen Berg Überstunden vor uns her. Überstunden, das Einspringen aus dem Frei oder auch Doppelschichten tragen dazu bei, dass dieses System überhaupt noch funktioniert. Hier wird also ganz bewusst der Pflegeethos missbraucht, um die Ökonomisierung im Krankenhausbetrieb voranzutreiben und gleichzeitig zu verdecken.
Wie reagieren die gewerkschaftlichen Personalvertretungen auf diesen Missbrauch?
Die Personal- oder Betriebsräte können dem leider oft nur wenig entgegensetzen. Leisten sie Aufklärungsarbeit, also dass es zum Beispiel eine gesetzliche Regelung ist, seine Pause zu nehmen – der Hinweis auf den formalen Arbeitsvertrag – sieht die Realität dennoch anderes aus. Nehme ich als Teil meines Teams mit rechtlichem Schutz meine Pause, während andere zeitgleich darauf verzichten, bin ich möglicherweise das „Kollegenschwein“ oder ich nehme in Kauf, dass meine Kolleginnen und Kollegen mit ortsfremden Leiharbeitnehmern ihre Schicht verbringen und damit eine Mehrarbeit verrichten müssen, während ich auf meine Freizeit poche.
Wie kann man dann dagegen vorgehen?
Dieses Prinzip der Delegation von Verantwortung gilt es systematisch zu durchbrechen. Ohne unsere freiwillige Mehrarbeit würden Krankenhäuser nicht funktionieren. Den Charakter der Freiwilligkeit können Pflegende jedoch auch als kollektive Macht nutzen. Gewerkschaftlich setzen wir genau dort an. So nutzen wir die freiwilligen Leistungen zum Beispiel für Ultimaten.
Was sind das für Ultimaten?
Die Strategie der Ultimaten bedeutet, dass in einem Team ein betriebsinterner Notruf – addressiert an den Vorstand der Charité – formuliert wird. Darin wird zunächst einmal der Skandal identifiziert, also zum Beispiel die Ansammlung von Überstunden oder das fehlende Personal. Dann werden kollektive Forderungen aufgestellt. Als letzten Punkt enthalten diese Notrufe die Androhung von Konsequenzen, sollte der Arbeitgeber die Forderungen nicht erfüllen. Diese können etwa das Verweigern des Einspringens aus dem Frei sein oder die Niederlegung der nicht vertraglich festgehaltenen Zusatztätigkeiten, wie zum Beispiel die Hygiene – und Dokumentationsbeauftragtentätigkeiten.
Das Team wird dabei gewerkschaftlich angeleitet und unterstützt, schreibt und beschließt die Elemente aber selbst. Wichtig ist, dass hier von Gewerkschaftsebene keine Stellvertreterpolitik betrieben wird. Dadurch entwickeln die Teams ein kollektives Machtbewusstsein, welches sie zur Gegenwehr befähigt.
Also ist der Streik nicht euer einziges Mittel im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen?
Nein, der Streik ist Teil einer Eskalationsstrategie. Er ist unser äußerstes Mittel und es ist wichtig, dass wir die Möglichkeit haben davon Gebrauch zu machen. Aber ohne den gezielten gewerkschaftlichen Aufbau und eine Aktivierung der Beschäftigten ist auch kein schlagkräftiger Streik möglich. Insofern hat es auch sein Gutes, dass wir durch die Hinhaltetaktik des Arbeitgebers und die Schlichtung nochmal diese »Ehrenrunde« drehen mussten. Wir haben das vergangene Jahr genutzt, um gezielt auf die Stationen zu gehen und die Kolleginnen und Kollegen für eine aktive Rolle in der Auseinandersetzung zu gewinnen. Dadurch stehen wir heute noch stärker da, als vor einem Jahr.
Wie seid ihr dabei vorgegangen?
Bereits 2013 hat sich das Bündnis »Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus« gegründet. Grundlegend bestand der Gedanke, dass das Bündnis hilft, die Problematik der Beschäftigten an der Charité in die gesellschaftliche und politische Ebene zu tragen. Beispielsweise engagiert sich das Bündnis im Zusammenhang mit dem Verhandlungen zum Berliner Krankenhausplan. Der Pflegenotstand wird thematisiert mit dem Ziel politische Personalvorgaben zu erreichen, damit der Kostenwettbewerb unter Krankenhäusern nicht mehr auf den Rücken der Beschäftigten und auf Kosten der Patienten ausgetragen wird. Beteiligt am Bündnis sind unter anderem die betrieblichen Interessenvertretungen verschiedener Krankenhäuser, Patientenfürsprecher und -initiativen, Mitglieder der Landesärztekammer sowie Aktivistinnen und Aktivisten aus verschiedenen politischen Gruppen und Initiativen.
Neben der politischen Kampagne unterstützt uns das Bündnis aber auch intern für eine bessere betriebliche Aufstellung. Die Idee dahinter ist, die Sichtweise der Beschäftigten auf ihre Arbeitsbedingungen zu verändern und zu politisieren. Zwar sind alle mit der Überlastung unzufrieden, jedoch fehlt in den Teams häufig der Blick auf das große Ganze.
Wie konnte das Bündnis euch dabei unterstützen?
Gemeinsam mit dem Bündnis haben wir Tandems gegründet – also Teams von Bündnisaktiven und Betriebsangehörigen – und haben es uns zur Aufgabe gemacht Argumente zu bündeln, die etwa die Ökonomisierung der Krankenhäuser in Frage stellen. Wir haben zum Beispiel mit Präsentationen zum DRG-System versucht den Blick der Beschäftigten zu verändern, um politische Kritik am Profitsystem zu artikulieren. Das passiert nicht auf Massenveranstaltungen, sondern in der Regel mit vier bis sechs Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Stationen. Diese »Multiplikatoren« koppeln dann die Inhalte an ihre Teams zurück und tragen dazu bei, die Thematik globaler zu diskutieren. Mit diesen Multiplikatoren haben wir ein Modell der Tarifberater etabliert.
Was sind Tarifberater?
Tarifberater sind Delegierte von einzelnen Stationen und Bereichen, die uns in der Auseinandersetzung während der Tarifverhandlungen unterstützen und nun den Streik mit vorbereiten. Während der Schlichtung war es für uns besonders bedauerlich nicht mit der Belegschaft kommunizieren zu dürfen. Am Ende wurde ein Ergebnis präsentiert, bei dessen Findung die Beschäftigten nicht mit einbezogen wurden. Das wollten wir dieses Mal anders gestalten. Deshalb haben wir die Struktur der Tarifberater geschaffen.
Seither findet stets ein direkter Rückkopplungsprozess statt, damit die Kolleginnen und Kollegen erfahren, was aktuell der Stand der Verhandlungen ist. Gemeinsam mit der Tarifkommission diskutieren sie dann über den Verhandlungsstand, können ihre Meinung und die Meinung ihrer Teams sowie ihre Expertise aus ihrem jeweiligen Arbeitsbereich einbringen. Das bedeutet, dass die Belegschaft ständig mit uns im Austausch steht und wir direkten Zugang zu Stationen und Bereichen haben und somit auch ein klares Feedback. Außerdem sind diese Strukturen natürlich sehr hilfreich um jetzt den Warnstreik vorzubereiten und die Belegschaft aktiv in dessen Organisation einzubeziehen.
Euer Streik ist erst einmal nur für zwei Tage angesetzt. Wie wird es weitergehen?
Der Warnstreik ist Teil unserer Eskalationsstrategie. Am 1. April haben wir an allen Standorten eine Steckbecken-Sinfonie veranstaltet, bei der wir mit Trillerpfeifen und Steckbecken ordentlich Lärm für mehr Personal gemacht haben. Jetzt fangen wir mit ausführlicher Pressearbeit an und dann kommt der Warnstreik, der sicher sehr viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, aber auch gefestigte Mobilisierungsstrukturen im Betrieb schaffen wird. Wie es dann nach dem Warnstreik weitergeht, können wir jetzt noch nicht sagen. Das hängt natürlich auch von der Arbeitgeberseite ab. Wir stellen uns auf jeden Fall auf eine harte Auseinandersetzung ein, die auch lange dauern kann. Aber die Kolleginnen und Kollegen sind bereit dazu. Wenn die Charité sich nicht deutlich bewegt, kann es passieren, dass wir auch zu einem unbefristeten Streik aufrufen werden müssen.
Wie kann man euch unterstützen?
Die Solidarität aus der Bevölkerung hat große Bedeutung. Letztlich handelt es sich auch um eine politische Auseinandersetzung, die sich um die Frage dreht, was uns als Gesellschaft eine gute Gesundheitsversorgung und Pflege wert ist. Ein Erfolg an der Charité hätte bundesweite große Auswirkungen. Daher sind wir uns bewusst, dass die Gegenseite versuchen wird das mit allen Mitteln zu verhindern und unseren Streik als unverhältnismäßig darzustellen. Wir sagen: Nicht der Streik gefährdet die Patienten, sondern der »Normalbetrieb« und wollen so die Öffentlichkeit auf unsere Seite bringen. Dafür müssen wir natürlich erst einmal Aufklärungsarbeit leisten. Dabei ist uns das Bündnis »Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus« sehr behilflich. Und es steht natürlich allen offen, die sich engagieren wollen.
Ein ganz konkreter erster Schritt uns zu unterstützen, ist es zu unserem Warnstreik an einen der drei Charité-Standorte zu kommen. Wir werden am Montag und Dienstag jeweils ab acht Uhr gemeinsam mit unseren Unterstützerinnen und Unterstützer dort präsent sein. Am Dienstag gibt es dann eine große Demonstration der Beschäftigten von allen drei Campi der Charité durch den Wedding. Los geht es um 15.30 Uhr am Haupteingang des Virchow-Klinikums. Dort wollen wir mit möglichst vielen Menschen ein deutliches Zeichen gegen den Personalnotstand und für unsere Forderungen setzten.
Das Interview führte Martin Haller
Im Rahmen des MARX IS MUSS Kongresses, der vom 14. – 17. Mai 2015 in Berlin stattfindet, gibt Grit Wolf einen Workshop:
Erfahrungen linker Betriebsarbeit am Beispiel der Charité
14. Mai 2015, 14:30 – 17:30 Uhr
Mehr Infos auf: www.marxismuss.de
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